Geschrieben von Dr. Molzen
Zuletzt aktualisiert: 17. Juli 2017 Blog
In Hamburg bin ich das erste Mal über sie gestolpert, die "Stolpersteine" des aus Berlin stammenden und in Köln lebenden Künstlers Gunter Demnig (Jg. 1947): Quadratische Pflastersteine, die mit einer Messingplatte versehen sind, in die die Namen, Lebens- und Todesdaten ermordeter Opfer des Nazi-Regimes eingraviert sind. Demnig verlegt die Steine persönlich am "letzten selbst gewählten Wohnort" von Menschen, die während der NS-Diktatur inhaftiert, deportiert und umgebracht wurden. Mich hat es tief bewegt, in einem noblen Hamburger Viertel vor wunderschönen Gründerzeit- und Jugendstilvillen dutzende dieser Stolpersteine zwischen den Gehwegplatten zu finden. Allzu leicht könnte man in einer solchen Gegend vergessen, dass die "Gute alte Zeit" nicht für alle gut war.
Besonders schockierten mich die Lebensdaten auf den Messingplatten: Nicht nur Alte und Frauen, sondern auch Kinder, Dreijährige, Schulkinder und Jugendliche, die hier lebten, in den Vorgärten und auf den Straßen spielten, wurden erbarmungslos verschleppt, gequält und getötet.
Am 20. Mai 2010 fand neben anderen Orten auch im Kieler Stadtteil Südfriedhof eine Verlegeaktion mit Gunter Demnig statt. Schülerinnen lasen die Lebensgeschichte der Opfer vor, an die erinnert werden sollte. Nachbarn und Passanten hatten sich eingefunden. In der Ringstraße 36 hatte die Familie Sandbank gelebt. Der Vater Wolf Sandbank (Jg. 1893) betrieb mit seiner Frau Amalie (Jg. 1900) eine Textilhandlung mit Reinigung. Eine ehemalige Nachbarin erzählte, dass sie die Tochter Fanny (Jg. 1930) gekannt habe. Sie zeigte sogar ein Klassenfoto, auf dem man Fanny, ein Mädchen mit dunklen Zöpfen zwischen ihren Klassenkameradinnen erkennen konnte. Eines Tages habe es geheißen, Fanny gehe nun auf eine andere Schule, berichtete die alte Frau. Die sechsköpfige Familie war abgeholt und in ein Sammellager nach Leipzig gebracht worden. Die jüngste Tochter der Sandbanks, Betty (Jg. 1933), war gerade 9 Jahre alt, als die Familie nach Auschwitz deportiert wurde. Keiner aus der Familie überlebte.
Über 22.000 Stolpersteine hat Gunter Demnig bislang in 530 Städten in Deutschland und weiteren europäischen Ländern (Belgien, Italien, Niederlande, Österreich, Polen, Tschechien, Ukraine, Ungarn) verlegt. Er will mit dieser Aktion den in den Konzentrationslagern zu Nummern degradierten Menschen ihren Namen zurückgeben. Das Bücken, um die Inschriften der Steine zu lesen, sieht Demnig als Verbeugung vor den Opfern. Gunter Demnig wurde, neben zahlreichen weiteren Preisen, 2005 das Bundesverdienstkreuz verliehen. Die Stolpersteine sind das größte dezentrale Kunstwerk der Welt.
Webseite: stolpersteine.com